„Um Europa willen: Die SPD muss regieren“

Namensbeitrag vom Michael Roth MdB in der FAZ (erschienen in der Printausgabe am 5.12.2017)

Angela Merkel ist mit dem Versuch gescheitert, eine Koalition aus Union, Grünen und FDP zu bilden. Der Traum von Jamaika ist ausgeträumt. Die SPD hat nach einer katastrophalen Wahlniederlage entschieden, sich in der Opposition neu aufzustellen. Aus gutem Grund. Die Große Koalition wurde bei der Bundestagswahl abgewählt. Ein einfaches „Weiter so“ kann es also nicht geben.

Doch mit dem Scheitern der Sondierungsgespräche hat sich die Lage grundlegend geändert. Nicht nur der Bundespräsident sondern auch die große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler erwarten, dass sich die gewählten Parteien ihrer Verantwortung für unser Land stellen. Verschiedene Optionen liegen auf dem Tisch: Erstens die abermalige Bildung eines Bündnisses aus CDU, CSU und SPD, das man mit zusammen 53,4 Prozent kaum noch als Große Koalition bezeichnen kann. Zweitens die Tolerierung einer Minderheitsregierung. Drittens die Ausrufung baldiger Neuwahlen. Nicht nur für die SPD ist es überlebenswichtig, alle Optionen vorurteilsfrei zu prüfen. Nun gilt es klug und unverzagt abzuwägen, in welcher Konstellation und Form der Zusammenarbeit die Partei ihr Wahlprogramm am besten umzusetzen, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen und Verantwortung für unser Land zu übernehmen vermag.

Auf dem Feld der Europapolitik fällt die Bilanz der vergangenen vier Jahre aus sozialdemokratischer Perspektive eher durchwachsen aus. Zwar ist es auf Drängen der SPD endlich gelungen, den Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und sozialem Zusammenhalt zu beschreiten. Auch vor Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedstaaten duckt man sich nicht mehr weg. Aber eine Reihe sozialdemokratischer Initiativen scheiterten am Widerstand des Bundeskanzleramtes oder unionsgeführter Ressorts. In vielen Fragen war der Koalitionsvertrag schlicht zu vage und nicht verbindlich genug. Das rächte sich.

Bei unseren europäischen Partnern ist die Erwartungshaltung an Deutschland hoch. Die Sorge, dass die Regierungsbildung in Berlin ganz Europa über Monate lähmen könnte, ist weit verbreitet. Zentrale Weichenstellungen stehen an, so die Verhandlungen über den Brexit und den mehrjährigen EU-Finanzrahmen, die Debatte über die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, der Aufbau einer sozialen Säule und die Stärkung der EU als Gemeinschaft des Rechts und gemeinsamer Werte. Nicht zuletzt die ambitionierten Reformpläne des französischen Präsidenten Emmanuel Macron haben die Hoffnung auf einen neuen Aufbruch in Europa beflügelt. Seit Jahren stand die Tür für Veränderungen in der EU nicht mehr so weit offen wie derzeit. Deutschland muss jetzt im engen Schulterschluss mit Frankreich Reformmotor werden!

Zwingende Voraussetzung dafür aber ist, dass sich die neue Bundesregierung auf eine stabile parlamentarische Mehrheit stützen kann. Schließlich bedürfen viele europapolitische Weichenstellungen ausdrücklich der Beteiligung oder Zustimmung des Bundestages. Eine Minderheitsregierung ist nicht in der Lage, große Reformen auf europäischer Ebene vorzunehmen, weil der Rückhalt im eigenen Parlament unklar ist. Zudem verhandelt in Brüssel allein die Bundesregierung. Angela Merkel und die Union wollen weder grundlegende Veränderungen hin zu einem sozialeren Europa noch weitreichende institutionelle Reformen. Und nun soll Merkel als Kanzlerin einer Minderheitsregierung plötzlich entschlossen eigene Konzepte unterbreiten oder Macrons Reformpläne beherzt unterstützen?

Wie könnte der Bundestag die Kanzlerin verbindlich auf einen europapolitischen Reformpfad verpflichten? Unser Grundgesetz kennt als Instrumente der parlamentarischen Bindung der Bundesregierung in EU-Fragen nur den Vorbehalt aus Art. 23 Abs. 1 GG, also die Ratifikation oder Zustimmung per Gesetz des Bundestages, nachdem auf EU-Ebene entsprechende Vertragsänderungen beschlossen wurden, oder vor der Entscheidung im Rat in bestimmten, die Integrationsverantwortung oder die haushaltspolitische Gesamtverantwortung betreffende EU-Angelegenheiten. Am Zustandekommen von EU-Sekundärrecht wirkt der Bundestag an der Willensbildung durch Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 3 GG mit. Diese Stellungnahmen hat die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen nur zu berücksichtigen, sie binden sie aber nicht. Eine dritte Form der Parlamentsbeteiligung, etwa indem die Bundesregierung ihr EU-Handeln mit dem Bundestag quasi verpflichtend abspricht und nur auf diesem Weg im Rat handeln kann, ist im Grundgesetz nicht vorgesehen und wahrscheinlich verfassungswidrig.

Nur wenn Deutschlands Rolle als Reformmotor in der EU verbindlich und konkret in einem Koalitionsvertrag geregelt wird, kann dies gelingen – nicht aber im Rahmen parlamentarischer Duldungsvereinbarungen. Die SPD ist einem sozialeren, solidarischeren und demokratischeren Europa verpflichtet. Dieses Ziel wird sie durch eine Minderheitsregierung nicht erreichen.