

Anrede,
Heute will ich mit Ihnen ein paar Gedanken teilen. Gedanken über Gott und die Welt, vor allem aber über Gott und Europa und darüber, was das alles mit uns zu tun hat. Gespräche über Europa, wie jenes, das wir gerade gehört haben, haben wohl die meisten von uns schon im Kreise ihrer Familie und Freunde erlebt. Viele fragen sich: Europa was bringt mir das eigentlich ganz persönlich?
Dabei liegt die Antwort auf der Hand. Die Errungenschaften der europäischen Einigung sind unbestreitbar: Mehr als 60 Jahre Frieden und Freiheit. Ein riesiger Binnenmarkt. Offene Grenzen von Portugal bis Polen, von Finnland bis Italien. Die Freiheit, überall in Europa arbeiten und leben zu dürfen. Eine gemeinsame Währung. Günstige Roaming-Gebühren. Europaweite Austauschprogramme wie ERASMUS.
Dass all diese Dinge mittlerweile keine Träume mehr sind, sondern gelebte Realität mit dieser Gewissheit wachsen gerade die jungen Europäerinnen und Europäer heute ganz selbstverständlich auf. Ja, es stimmt: Wir leben in Europa unseren großen Traum von Frieden, Freiheit und Wohlstand Tag für Tag. Wahr ist aber auch: Verwirklichte Träume neigen dazu, im Alltag sehr schnell banal und selbstverständlich zu werden.
Der Regisseur Wim Wenders brachte dieses Grundgefühl vieler Europäerinnen und Europäer vor einigen Jahren einmal treffend auf den Punkt: Als ich ein Junge war, träumte ich von einem Europa ohne Grenzen. Nun reise ich quer hindurch, virtuell und realiter, ohne je meinen Pass zu zeigen, zahle sogar mit einer Währung, aber wo ist nur meine Emotion geblieben?
Diese Erfahrung hat fast jeder schon einmal gemacht. Europa das ist heute für Viele wie eine in die Jahre gekommene Liebe. Die Emotionen lassen nach, dafür rücken die Probleme des Alltags stärker in den Blick. Es beginnt zu kriseln in der Beziehung, die Zweifel wachsen. So erleben wir es heute auch mit Europa und seinen Bürgern.
Verhält es sich mit unserem Glauben nicht manchmal ähnlich? Was hat Gott mit mir und meinem Leben zu tun? Warum lässt Gott zu, dass auf der Welt so viel Leid, soviel Unrecht geschieht? Fragen wie diese zeigen: Zum Glauben gehört immer auch der Zweifel. Wenn’s nicht so wäre, hieße es ja Wissen und nicht Glauben.
Anrede,
Manchmal schärft es den Blick auf ein Objekt, wenn man die Perspektive wechselt. Das gilt auch für unsere Sichtweise auf Europa. Diejenigen, die in Europa leben, scheinen seiner überdrüssig und verlieren mehr und mehr das Vertrauen in seine Möglichkeiten.
Schaut man dagegen einmal von außen auf Europa, dann ändert sich das Bild schlagartig. Diejenigen, die außerhalb Europas leben, wollen um jeden Preis hierher, weil sie mit Europa ein ganz besonderes Hoffnungsversprechen verbinden.
Wim Wenders beschrieb diese Außenperspektive mit fast schon biblischen Worten so: Europa ist der Himmel auf Erden, das gelobte Land, sobald Sie es einmal von außen betrachten. Zuletzt habe ich Europa aus Chicago und New York gesehen, aus Tokio, aus Rio, aus Australien, mitten aus Afrika heraus, oder noch vorige Woche aus Moskau. Europa erschien jeweils in einem anderen Licht, aber immer als Paradies, als ein Traum der Menschheit, als ein Hort des Friedens, des Wohlstandes und der Zivilisation.
Und Wim Wenders hat recht: Auf dem Maidan in Kiew weht die Europaflagge, weil man dort an Europas Werte glaubt an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Auch auf dem Taksim-Platz in Istanbul demonstriert man für diese Werte. Flüchtlinge aus Nordafrika setzen ihr Leben aufs Spiel, weil sie in Europa auf ein menschenwürdiges Leben und auf Sicherheit vor Verfolgung hoffen.
Anrede,
Was ist das nur für ein Europa, das von den Menschen so unterschiedlich wahrgenommen wird? Wie gelingt es auch uns Europäerinnen und Europäern wieder mehr das Europa der Hoffnung statt nur das Europa der Krise zu sehen?
Lassen Sie mich ganz persönlich auf diese Frage antworten: Mein Leben als Staatsminister besteht derzeit zu einem großen Teil aus Reisen und Reden und Zuhören. In der vergangenen Woche hatte ich die Gelegenheit, ein ganzes Jahrhundert in der wechselhaften Geschichte Europas in nur drei Tagen zu erleben ein bewegender Schnelldurchlauf durch die Geschichte, der mich nach Polen, Frankreich und Belgien führte.
Am vergangenen Samstag habe ich das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau besucht ein Ort des Grauens, der einen die Monstrosität des Holocaust auf beklemmende Art und Weise spüren lässt. Mehr als eine Million unschuldige Menschen haben hier ihr Leben gelassen Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und politisch Andersdenkende. Wir erinnern uns in diesem Jahr an den deutschen Überfall auf Polen vor 75 Jahren, mit dem die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs ihren Lauf nahm.
Gemeinsam mit unserem Bundespräsidenten Joachim Gauck bin ich am nächsten Tag ins Elsass gereist, um dort an einer großen Gedenkveranstaltung zum Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren dort teilzunehmen. Am Hartmannsweilerkopf starben rund 30.000 Soldaten deutsche und französische in einem sinnlosen Stellungskampf. Am darauffolgenden Tag folgten weitere bewegende Zeremonien in Lüttich und Löwen zum hundertsten Jahrestag des deutschen Überfalls auf das neutrale Belgien im August 1914.
An all diesen Orten, an denen Europa all das verraten hat, was seine Werte, seine Kultur und seine Zivilisation eigentlich ausmacht, an denen von Deutschen und in deutschem Namen grausame Verbrechen begangen wurden, liegt die Frage nahe: Wo war Gott in diesen Jahren? Wie konnte Gott nur so unendlich viel Leid und Unrecht zulassen?
In Auschwitz begegnete ich Marian Turski, einem Überlebenden des Holocaust. Er sagte mir im Gespräch: Die Frage Wo war Gott in Auschwitz? ist falsch. Die Frage müsste vielmehr lauten: Wo war der Mensch in Ausschwitz? Wo war die Menschlichkeit?
Ja, es stimmt: Machen wir es uns nicht viel zu einfach, wenn wir mit dem Finger vorwurfsvoll auf Gott weisen? Wo war eigentlich der Mensch in Ausschwitz, am Hartmannsweilerkopf und in Lüttich? Denn: Es waren Menschen, die buchstäblich alle Mittel probiert und eingesetzt haben, um sich gegenseitig zu vernichten. Es ist eben allein der Mensch, der unmenschlich handeln kann, so sagte es auch Bundespräsident Gauck in seiner Rede am Hartmannsweilerkopf.
Es ist richtig: Gott ist unser stetiger Begleiter, aber er nimmt uns mitnichten aus der Verantwortung für unser eigenes Handeln. Gott war da, an all diesen Orten in Ausschwitz, am Hartmannsweilerkopf und in Lüttich. Doch diese Orte stehen heute auch als mahnendes Beispiel dafür, was geschieht, wenn der Mensch Gott aus den Augen verliert, wenn Menschen zu Unmenschen werden, wenn Menschen gottlos handeln.
Anrede,
Ich habe in diesen drei Tagen des Gedenkens viel gelernt über Deutschland, über die Wahrnehmung unserer gemeinsamen Geschichte in unseren Nachbarländern und über das, wozu Menschen fähig sind, wenn sie Gott aus den Augen verlieren.
Manche mögen Gedenkveranstaltungen vielleicht für etwas Ritualisiertes halten andere sogar für reine Geldverschwendung. Ich aber empfehle jedem EU-Gegner, diese Orte des Schreckens und der Erinnerung zu besuchen. Vielleicht spüren dann auch die ewigen Nörgler und Skeptiker endlich, wie kostbar das vereinte Europa für uns ist: Die Europäische Union ist wie es der Bundespräsident formulierte keine bloße Laune der Geschichte, sondern sie ist die Institution gewordene Lehre aus unserer Geschichte.
Tage der Erinnerung, wie wir sie in diesem Jahr so zahlreich begehen, sind wichtig. Sie helfen uns, unsere Gegenwart und Zukunft besser zu verstehen. Erst in der Rückschau können wir ermessen, welch langen Weg wir in Europa gehen mussten, um dorthin zu kommen, wo wir heute stehen: In Europa regiert nicht mehr das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts. Aus Feinden sind über die Jahrzehnte Partner und Freunde geworden. Heute zielen wir nicht mehr mit Waffen aufeinander, sondern wir diskutieren in den Brüsseler Verhandlungsräumen über politische Kompromisse. Meist mit Erfolg, in jedem Fall aber gemäß der Regeln, die wir gemeinsam beschlossen haben.
Die EU ist unsere Antwort auf Krieg, Nationalismus und Faschismus. Und was wir in den vergangenen Jahrzehnten gemeinsam erreicht haben, ist weit mehr als nur ein Binnenmarkt und eine Währungsunion: Europa ist vor allem auch eine Werteunion, eine Rechtsstaatsfamilie, eine Solidargemeinschaft! Europa ist unsere Lebensversicherung, die uns Frieden, Freiheit, Vielfalt und Demokratie garantiert.
Anrede,
Dieses Europa, in dem wir heute leben, ist ein echtes Wunder keines, das einfach so vom Himmel gefallen ist, sondern eines, das von Menschen geschaffen wurde. Von Menschen, die für Freiheit und Frieden eingetreten sind. Von Menschen, die alte Feindschaften überwunden haben. Von Menschen, die Grenzen und Mauern eingerissen haben. Von Menschen, die trotz unterschiedlicher Sprachen und Traditionen gelernt haben, ein gemeinsames Verständnis füreinander zu entwickeln.
Um dieses europäische Wunder zu schaffen, brauchte und braucht es viel Mut und Kraft. Oder um es anders zu formulieren, wie wir es vorhin in der Pfingstgeschichte gehört haben: Es braucht auch Gottes Geist, um eben diese Grenzen und Mauern zu überwinden die realen Grenzen aus Stacheldraht und Beton ebenso wie die Grenzen in unseren Köpfen.
Es ist ein Geschenk Gottes, dass Menschen sich (neu) verstehen, trotz aller Unterschiede Gemeinsamkeiten und Verbindendes entdecken, gemeinsam Hoffnung entwickeln und Positives sehen. Christinnen und Christen sprechen eine Sprache: die Sprache der Vergebung, der Versöhnung, des Miteinanders, des Friedens, der Freiheit, der Unveräußerlichkeit der menschlichen Würde.
Gott will uns bunt, vielfältig, verschieden! Genauso ist Europa: 24 Amtssprachen, ein buntes Nebeneinander der Religionen, Kulturen, Traditionen und Ethnien. Männer und Frauen, Jung und Alt, heterosexuell und schwul.
Wenn man aus dieser Perspektive auf Europa schaut, dann erkennt man: Europa ist nicht der Wahn der Gleichmacherei, der Uniformität, der Einebnung der Unterschiede… Im Gegenteil: Europa ist der Traum von Vielfalt. In Vielfalt vereint! Daran sollten wir uns öfter mal zurückerinnern, wenn wir wieder am Sinn und Wert Europas zweifeln.
Bundespräsident Gauck schloss seine Rede am Hartmannsweiler mit den Worten: Europa ist ein schwieriges Projekt. Aber die Generationen vor uns hätten gerne unsere Schwierigkeiten gehabt, jene Vorfahren auf den Schlachtfeldern [ ]. Unsere Schwierigkeiten können wir gemeinsam bewältigen. Wir können an einem historischen Projekt arbeiten, in dem nicht mehr die einen Sieger und die anderen Verlierer sind, sondern alle miteinander gewinnen nur miteinander.
Es liegt in unseren eigenen Händen und Köpfen, Europa eine Richtung zu geben!