Manchmal schärft es den Blick auf ein Objekt, wenn man die Perspektive wechselt. Das gilt auch für unsere Sichtweise auf Europa. Die Europäerinnen und Europäer selbst haben ein zutiefst gespaltenes Verhältnis zur EU. Anstatt darüber zu diskutieren, wie wir uns das Europa von morgen vorstellen, widmen wir uns hierzulande viel zu häufig der Frage, welches Europa wir auf keinen Fall wollen.
Das erleben wir in der aufgeheizten Debatte über die Freizügigkeit und die Armutszuwanderung. Oder wir hören es, wenn Unmut über die vermeintliche Regulierungswut der EU-Kommission laut wird. Fakt ist: Europa hat zunehmend den Ruf als Sündenbock für all unsere Probleme. Viele Bürgerinnen und Bürger sehen Europa nicht mehr als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems.
Schaut man dagegen einmal von außen auf Europa, dann ändert sich das Bild schlagartig. Der Regisseur Wim Wenders hat diese Außenperspektive einmal sehr treffend auf den Punkt gebracht: Europa ist der Himmel auf Erden, das gelobte Land, sobald Sie es einmal von außen betrachten. Zuletzt habe ich Europa aus Chicago und New York gesehen, aus Tokio, aus Rio, aus Australien, mitten aus Afrika heraus, oder noch vorige Woche aus Moskau. Europa erschien jeweils in einem anderen Licht, aber immer als Paradies, als ein Traum der Menschheit, als ein Hort des Friedens, des Wohlstandes und der Zivilisation.
Was ist das nur für ein Europa, das von den Menschen so unterschiedlich wahrgenommen wird? Diejenigen, die in Europa leben, scheinen seiner überdrüssig und verlieren mehr und mehr das Vertrauen in seine Möglichkeiten. Und diejenigen, die außerhalb Europas leben, wollen um jeden Preis hierher, weil sie mit Europa ein ganz besonderes Hoffnungsversprechen verbinden.
Es bleibt eine große Herausforderung und Aufgabe für uns alle, diesen Widerspruch aufzulösen. Es muss uns gelingen, den emotionalen Wert, aber auch den ganz praktischen Mehrwert Europas für die Menschen deutlich und spürbar zu machen. Europa muss von den Bürgerinnen und Bürgern endlich wieder als Problemlöser statt als Problemverschärfer wahrgenommen werden.
Ganz konkret am Beispiel von fünf Punkten: Wie können wir Europa endlich besser machen?
1. Big on big things, small on smaller things
2. Sozialen Zusammenhalt in Europa stärken
3. Probleme anpacken, Freizügigkeit verteidigen
4. Wertegemeinschaft verteidigen
5. Deutschlands Rolle in Europa
Europa endlich besser machen: Big on big things, small on smaller things
Die aktuelle Debatte darüber, wie wir uns die EU in der Zukunft vorstellen, wird oft auf den Gegensatz mehr/weniger Europa verkürzt. Ich bin der festen Überzeugung: Es geht letztlich gar nicht um die Frage, ob wir mehr oder weniger Europa wollen. Wir sollten uns vielmehr darauf konzentrieren, wie es uns gelingen kann, gemeinsam an einem anderem, einem besseren Europa zu arbeiten.
Dafür muss nicht zwingend jedes einzelne Detail auf europäischer Ebene geregelt werden. Unser Ziel ist ein bürgernahes Europa, in dem die Probleme auf der Ebene gelöst werden, wo das am besten gelingt. Die EU soll vor allem dort tätig werden, wo sie den Bürgerinnen und Bürgern einen spürbaren Mehrwert bringt.
Und da kann Europa vieles leisten. In einer immer stärker glo-balisierten Welt stoßen die Nationalstaaten alter Prägung in immer mehr Bereichen an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit. Weder Deutschland noch ein anderes Land kann die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts im Alleingang bewältigen: Wenn es darum geht, die gemeinsame Währung zu sichern, die Finanzmärkte wirksam zu regulieren oder das Klima zu schützen dann gelingt das nur durch gemeinsames europäisches Handeln!
In diesen Schlüsselbereichen brauchen wir eine starke EU, in anderen Fragen sollte sich die EU dagegen stärker zurückhalten. Kommissionspräsident Barroso hat das im September 2013 in seiner Rede zur Lage der Union treffend auf den Punkt gebracht mit der einfachen Formel: The EU needs to be big on big things and smaller on smaller things. Manchmal ist weniger eben doch mehr! Diese Devise hat auch die EU-Kommission in der Vergangenheit nicht immer beherzigt.
Europa endlich besser machen: Sozialen Zusammenhalt in Europa stärken
Die ersten positiven Signale aus den Krisenstaaten ermutigen uns, den Weg der Haushaltskonsolidierung und der Strukturreformen weiterzugehen.
Wir wissen, wie schwer und steinig dieser Weg ist und welche großen Opfer er den Griechen, Portugiesen oder Iren abverlangt.
Klar ist aber auch: Der Weg aus der Krise darf nicht nur über Sparprogramme und die Liberalisierung der Märkte führen. Statt einseitiger marktradikaler Wettbewerbslogik brauchen wir vielmehr einen umfassenden Ansatz, der auch der angespannten sozialen Lage in Teilen unseres Kontinents Rechnung trägt.
Das soziale Europa war lange Zeit nicht viel mehr als ein Thema für Sonntagsreden. Das müssen wir ändern. Wir müssen das Jahr 2014 nutzen, um in Europa endlich wieder das soziale Fundament zu stabilisieren und spürbare Impulse für Wachstum und Beschäftigung geben.
Denn vor allem die sozialen Folgen der Krise sind noch lange nicht überwunden. Insbesondere die dramatisch hohe Jugendarbeitslosigkeit in einigen unserer Partnerländer müssen wir endlich in den Griff bekommen. In Griechenland und Spanien hat mittlerweile mehr als jeder zweite Jugendliche keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Viele von ihnen sehen Europa nicht mehr als Zukunftsversprechen, sondern als Bedrohung für ihre Lebensplanung.
Insbesondere diesen jungen Menschen, die in der Krise den Glauben an die Stärke Europas verloren haben, müssen wir beweisen: Wir lassen Euch mit Euren Sorgen und Ängsten nicht alleine!
Europa endlich besser machen: Wertegemeinschaft verteidigen
Die vergangenen Jahre waren vor allem geprägt vom Kampf gegen eine tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise. Doch auch wenn unser Fokus zuletzt maßgeblich auf der Stabilisierung der Eurozone und der Förderung von Wachstum und Beschäftigung lag, dürfen wir niemals vergessen: Europa ist weit mehr als nur ein Binnenmarkt und eine Währungsunion, Europa ist vor allem eine einzigartige Wertegemeinschaft, die weit über unsere Außengrenzen hinaus strahlt.
Europas Hoffnungsversprechen wird uns derzeit vor allem bewusst, wenn wir den Blick in unsere unmittelbare Nachbarschaft richten: Auf dem Majdan in Kiew weht die Europaflagge, weil man an die Werte Europas glaubt an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Flüchtlinge aus Nordafrika setzen ihr Leben aufs Spiel, weil sie in Europa auf ein menschenwürdiges Leben und auf Sicherheit vor Verfolgung hoffen.
Doch zuletzt hat sich wiederholt gezeigt, dass elementare demokratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien auch in einigen EU-Mitgliedstaaten in Bedrängnis geraten sind. Das alles führt uns vor Augen: Unser gemeinsames Wertefundament in Europa ist keine Selbstverständlichkeit, sondern muss jeden Tag aufs Neue gepflegt und verteidigt werden.
Deshalb wird die Bundesregierung Vorschläge zur Schaffung wirksamer Mechanismen vorlegen, die unsere Wertegemeinschaft dort schützen, wo Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedroht sind. Denn nur wenn wir die europäischen Grundwerte nach innen uneingeschränkt vorleben, können wir sie auch nach außen glaubhaft einfordern.
Europa endlich besser machen: Probleme anpacken, Freizügigkeit verteidigen
In der aufgeheizten Debatte über die Freizügigkeit und die Probleme mit der sog. Armutszuwanderung in einigen deutschen Kommunen wird immer wieder der Eindruck erweckt: Es droht der Ausverkauf nationaler Sozialsysteme und der massenhafte Verlust von Arbeitsplätzen für Einheimische, wenn wir die Zuwanderung nicht strikt begrenzen.
Wir tun alle gut daran, diese Fragen mit Augenmaß und ohne Polemik zu diskutieren. Selbstverständlich müssen die sozialen Probleme gelöst werden, mit denen strukturschwache Kommunen wie Duisburg oder Dortmund derzeit zu kämpfen haben. In diesen sozialen Brennpunkten müssen wir das friedliche Zusammenleben zielgerichtet mit Bildungs- und Integrationsangeboten fördern. Und natürlich müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass gesetzliche Regelungen nicht umgangen und Fehlentwicklungen (z.B. der Missbrauch von Sozialleistungen) schnellstmöglich abgestellt werden.
Darüber dürfen wir aber nicht die Freizügigkeit als eine der größten europäischen Errungenschaften grundsätzlich in Frage stellen. Denn insbesondere Deutschland profitiert maßgeblich vom Binnenmarkt und von einem offenen Europa, in dem alle EU-Bürgerinnen und Bürger ihren Wohn- und Arbeitsort frei wählen können. Um unsere wirtschaftliche Stärke und das Niveau der sozialen Sicherung zu erhalten, sind wir in Zukunft mehr denn je auf Einwanderung durch Fachkräfte aus unseren europäischen Partnerländern angewiesen von der Krankenpflegerin bis zum IT-Spezialisten.
Wenn mit plumpen Parolen Vorurteile und Ängste geschürt werden, hilft das letztlich weder den betroffenen Kommunen noch den Zuwanderern selbst. Vielmehr müssen wir die Probleme endlich entschlossen an der Wurzel anpacken, indem wir hierzulande die betroffenen Städte zielgenau unterstützen und auf europäischer Ebene dabei mithelfen, dass die Lebensbedingungen in den Heimatländern der Zuwanderer endlich grundlegend verbessert werden.
Wir wollen keine neuen Grenzen in Europa hochziehen, sondern ein Europa, das die Mobilität seiner Bürger als Chance und nicht als Bürde begreift. Wenn das gelingt, dann könnte auch das Schreckgespenst der Masseneinwanderung endlich wieder aus den Köpfen der Menschen verschwinden.
Europa endlich besser machen: Deutschlands Rolle in Europa
Unsere europäischen Partner erwarten, dass Deutschland mehr Führungsverantwortung in der EU übernimmt. Doch wir sind in der Vergangenheit stets gut damit gefahren, unsere wirtschaftliche und politische Stärke nicht dominant auszuspielen. In den letzten Jahren konnte mancherorts der Eindruck entstehen, Deutschland suche die Rolle eines Oberlehrers und wolle seine eigenen Vorstellungen von Europa kompromisslos durchsetzen. Dieses verzerrte Bild müssen wir gerade rücken.
Dazu zählt, dass wir unseren Partnern zeigen: Die EU darf niemals nur eine Angelegenheit der großen Mitgliedstaaten sein. Denn in Europa kommt es weniger auf die Größe eines Landes an. Was zählt, sind vielmehr die Kreativität und die Ideen, mit denen sich ein Land in die europäischen Diskussionen einbringt. Wenn wir in Europa wirklich Großes vollbringen wollen, dann schaffen wir das nur gemeinsam. Wir wollen daher allen unseren Partnern in Europa unabhängig von ihrer Größe solidarisch die Hand zur Zusammenarbeit reichen.
Fazit
Wenn es uns gelingt, in Europa in diesen fünf Punkten nur ein Stückchen besser zu machen, dann gelingt es uns vielleicht, dass Europa bald nach innen gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern dieselbe Strahlkraft hat wie sie in der Außenperspektive von vielen Nicht-Europäerinnen und Nicht-Europäern wahrgenommen wird.