03.07.2013
Quelle: Frankfurter Rundschau, Seite 12
ANALYSE
Von Michael Roth
Heute verwandelt sich die Tu-Nix-Kanzlerin wieder in Europas oberste Gipfelstürmerin. Angela Merkel hat die Arbeits- und Sozialminister aller EU-Staaten nach Berlin eingeladen, um über Schritte gegen die dramatisch hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa zu beraten.
Doch auch dieser hübsch inszenierte Gipfel kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass die Bundesregierung die Existenzängste und Zukunftssorgen einer ganzen Generation viel zu lange ignoriert hat. Daher ist Merkels Aktionismus im aufziehenden Wahlkampf der Gipfel der Scheinheiligkeit. Rote Teppiche und Blitzlichtgewitter helfen nicht weiter. Jetzt sind Taten gefragt.
Seit Ausbruch der Krise hat sich die Euro-Rettungspolitik der Kanzlerin in erster Linie an der Psychologie der Märkte orientiert. Alles war darauf ausgerichtet, das schwindende Vertrauen der Investoren zurückzugewinnen. Merkels Zauberformel lautet "Hauptsache marktkonform!". Rund 1,2 Billionen Euro haben die Euro-Mitglieder bereitgestellt, um notleidende Staaten und marode Banken zu stabilisieren. Als auch das nicht genug war, erhörte die Europäische Zentralbank die Rufe nach der "Bazooka", der ultimativen Beruhigungspille für die in Panik geratenen Märkte.
Das große Versprechen der EZB hat zwar die Märkte nachhaltig beeindruckt, doch bei den Bürgern herrscht weiter Verunsicherung. Immer mehr schwindet ihr Vertrauen in die europäische Politik, die nach wie vor kein wirksames Rezept gegen die horrende Jugendarbeitslosigkeit findet. Dabei sind nicht nur Staaten und Banken systemrelevant, auch für die derzeit 5,6 Millionen jungen Arbeitslosen in Europa gilt: "Too big to fail". Schließlich liegt Europas wahres Kapital für die Zukunft nicht auf Bankkonten, sondern in den Köpfen und Händen der jungen Europäer. Doch wo bleibt eigentlich die soziale "Bazooka", die Europas arbeitslose Jugend nachts endlich wieder ruhig schlafen lässt?
Angesichts der Horrorzahlen vom Arbeitsmarkt ist die mickrige Summe, die die Staats- und Regierungschefs im künftigen EU-Haushalt für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eingeplant haben, alles andere als eine "Bazooka". Sechs Milliarden Euro für 5,6 Millionen Jugendliche ohne Job – diese Rechnung kann nicht aufgehen. Bei einer Verteilung der Mittel auf die Jahre 2014/2015 bleiben gerade mal 45 Euro pro Kopf und Monat – das reicht nicht mal für ein Monatsticket für den öffentlichen Nahverkehr. Mindestens 20 Milliarden Euro sollte der Politik ein Rettungsschirm für Europas Jugend wert sein.
Ein einfaches Patentrezept gegen die Jobkrise gibt es nicht, eine wirksame Medizin muss aus ganz unterschiedlichen Zutaten bestehen. Vor allen Krisenstaaten liegt ein langer, beschwerlicher Weg mit Strukturreformen im Ausbildungssystem und am Arbeitsmarkt, gezielten Investitionen ki Bildung und Infrastruktur sowie Maßnahmen gegen die Kreditklemme bei ausbildenden Unternehmen.
In der aktuellen Notlage könnte jedoch gerade der selbst ernannte Klassenprimus Deutschland ein Zeichen der innereuropäischen Solidarität setzen. Während in Griechenland oder Spanien mehr als jeder zweite Jugendliche keinen Ausbildungsoder Arbeitsplatz hat, steht Deutschland mit einer Quote von 7,5 Prozent vergleichsweise gut da. Unser deutsches Modell der dualen Ausbildung hat sich in der Praxis bewährt, doch kurzfristig lässt es sich in den Krisenstaaten kaum umsetzen. Strukturreformen brauchen eben ihre Zeit.
So lange können die Jugendlichen aber unmöglich warten, sie brauchen sofort wirksame Unterstützung. In Sonntagsreden beschwört die Kanzlerin derzeit gerne die Vorzüge des deutschen Ausbildungsmodells und die Notwendigkeit eines europäischen Arbeitsmarkts. Bei dem Berliner Gipfel hat Merkel nun die Gelegenheit ihren EU-Partnern zu beweisen, dass sie es wirklich ernst meint.
Ein sozialdemokratischer Kanzler hätte jedenfalls nicht so lange gezögert und längst ein ambitioniertes Sofortprogramm vorgeschlagen: Deutschland sollte sich bereit erklären, 100.000 Jugendlichen aus den besonders betroffenen Partnerstaaten kurzfristig einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz bei einem deutschen Unternehmen anzubieten. Finanziell könnte dieser gewaltige Kraftakt mit den noch nicht abgerufenen Mitteln aus den europäischen Fördertöpfen gestemmt werden. Machbar ist das, wenn nur der politische Wille da ist. Ein solch umfassendes Zukunftsversprechen wäre das Ende der schnöden Symbolpolitik, die "Bazooka" für Europas Jugend wäre endlich einsatzbereit.
Das 100.000-Perspektiven-Programm wäre auch die beste Imagekampagne für Deutschland, dessen guter Ruf in Europa zuletzt durch das arrogante und oberlehrerhafte Auftreten der Regierung Merkel massiv gelitten hat. Die "Generation Erasmus" hat Millionen von begeisterten Europäern hervorgebracht. Genauso könnten die jungen Erwachsenen, die in ihrer Not vorübergehend Zuflucht und Arbeit bei uns finden, künftig zu Botschaftern eines anderen Deutschlands werden. Ein Deutschland, das in Europa wieder für Solidarität und Gastfreundschaft steht. Denn die klugen Köpfe werden in ihre Heimatländer zurückkehren, sobald sich dort die Wirtschaftslage gebessert hat und die notwendigen Strukturreformen erfolgreich umgesetzt sind.
Für Deutschland und die jungen Menschen in unseren krisengeschüttelten Partnerländern wäre ein solches Sofortprogramm eine lohnende Investition in die Zukunft – und deutlich mehr wert als wolkige, aber folgenlose Erklärungen bei medial aufgemotzten Gipfelshows.
Michael Roth ist europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Generalsekretär der SPD Hessen.
(c) Druck- und Verlagshaus Frankfurt am Main GmbH